Kategorie VdK-Zeitung Verbandsleben Behinderung

Wunder der sprechenden Hand

Von: Eberhard von Wiese

In den Nachkriegsjahren hatten viele kriegversehrte Männer mit ihren Schicksalen zu kämpfen. Wie ein taub-blinder junger Mann und seine Frau mit starkem Willen und einer außergewöhnlichen Liebe ihr Schicksal meisterten, zeigt ein Bericht von 1952 aus der VdK-Zeitung “Die Fackel”. Lesen Sie hier den Original-Text:

Foto eines alten Zeitungsausschnitts.
Ein Artikel über Margot Koops und ihren taub-blinden Bräutigam aus der Vdk-Zeitschrift "Die Fackel", Ausgabe Mai 1952.

Zwei Jahre sind Margot Koops und Franz Swoboda, Jurastudent im sechsten Semester, verlobt. Margot hat sich entschlossen, ihr ganzes Ich dem Verlobten, dem hilflosen Menschen zu opfern. Diesen Mädchen zart, fast ätherisch, will nur noch für ihn auf der Welt sein. Die Augen in dem schmalen, von blondem Haar umwellten Gesicht blicken auch dann ernst, wenn sie lachen. 

Kann es zwischen zwei Liebenden eine größere Harmonie geben? Franz kann seine Margot nie hören. Die feingliedrigen Hände des Mädchens sind für Franz der einzige Schlüssel, der hinausführt aus der ewigen Nacht. Nach einem sehr sinnvollen System ist die linke Hand des Taubblinden (die Rechte ist verkrüppelt) ähnlich der Tastatur einer Schreibmaschine aufgeteilt in Buchstaben. Die Knöchel am Fingeransatz z. B. bedeuten die Vokale E, I, O, U. Die mittleren Knöchel bezeichnen die Konsonanten K, L, M, N, R. Die Nägel heißen B, D, F, G, H. 

Hand als lebendige Tastatur


So sinnvoll ist das System, daß häufig vorkommende Worte gleichsam stenographisch geschlüsselt sind. Ein Antippen des kleinen Fingers bedeutet „haben". Margots Aufgabe ist es, durch ein zartes Berühren mit den Fingerspitzen der rechten Hand auf dieser lebendigen Tastatur zu spielen. Die Buchstaben, die Worte, dem Taubblinden zu übertragen. So groß ist die Geschicklichkeit Margots, so erstaunlich die Konzentrationskraft des Taubblinden, daß er einer Unterhaltung fast mühelos folgen kann, daß seine Antworten auf die Fragen des Partners, den er nicht sieht und den er nicht hört, fast schlagartig erfolgen.

Die Erschütterung, einem jungen, kräftigen, derart vom Schicksal geschlagenen Menschen gegenüber zu sitzen, weicht der Bewunderung. Einer Bewunderung vor der Lebensenergie des Mannes und vor dem liebenden Idealismus des Mädchens, dessen Blicke nicht von den toten Augen des Verlobten weichen und dessen Hände unaufhörlich „telegraphieren". Tagein, tagaus.

Blind und taub

Margot Koops, in Fuhlsbüttel aufgewachsen, wollte eigentlich Gewerbelehrerin werden. Ihr Vater, kriegsblind seit dem Ersten Weltkrieg, ist in Hamburg bei der Fürsorge tätig. Seit Margot Swoboda kennenlernte, weiß sie, daß es noch etwas Schlimmeres gibt - blind zu sein und obendrein nicht hören zu können. 

Franz Swoboda stammt aus Oberschlesien. Ein Bruder ist gefallen, einer wird noch vermißt. Die Eltern leben noch in Schlesien.  Der begeisterte Sportler, der junge Offiziersanwärter, wollte Medizin studieren. Das Schicksal wollte es anders.
„Wir standen vier Tage und fünf Nächte im Einsatz, die Nerven zum Zerreißen gespannt. In einem Gebüsch neben uns lag der Russe. Eine Leuchtkugel, ein Feuerstoß. Ein Schrei des Entsetzens und des Schmerzes. Die Granatsplitter hatten mir das Augenlicht gelöscht, der Druck der Detonation das Gehör zerstört." So erzählte er uns durch Mittlung von Margot. 

Martyrium der ersten Nachkriegs-Jahre

Es begann die Odyssee durch die Lazarette, das Martyrium der ersten Nachkriegs-Jahre. Hunger und Hoffnungslosigkeit. Als Swoboda 1949 in Göttingen Jura zu studieren anfing, glaubte keiner, daß er es durchhalten würde. Der Wille zur Selbsterhaltung siegte, er siegte auch über den Egoismus derjenigen, die sich dem Taubblinden als Helfer gegen Honorar anboten. Dann trat das Mädchen in sein Leben. Es wurde eine neues, ein hoffnungsvolles Leben.

Margot begleitet ihren Bräutigam in die Kollegs. Sie macht sich Notizen für ihn im Kolleghert. Sie überträgt ihm direkt die Worte des Professors. Zu Hause verarbeiten sie gemeinsam das Material. Was Margots Hände „sagen", das überträgt Franz Swoboda mit der Blindenschreibmaschine in Blindenschrift. Aus der Marburger Blindenbibliothek kommt Fachliteratur. Im Herbst will er sein Staatsexamen machen. Er hofft auf Anstellung als Jurist in der Verwaltung. „Dann werden wir heiraten. Auch im Beruf werde ich immer bei meinem Mann sein", sagt Margot schlicht und selbstverständlich.

„Dame" Margot im Kreis der Männer

Für Margot gibt es kein Privatleben mehr. Kaum, daß sie einmal ins Kino kommt. Und wenn sie geht, begleitet sie der Bräutigam. Margot „übersetzt" ihm dann mit den Händen die Handlung.

Franz Franz Swoboda ist in einer farbentragenden burschenschaftlichen Verbindung. Die Kameraden lieben ihn. Es ist selbstverständlich geworden, daß bei den Kommersen als einzige „Dame" Margot im Kreis der Männer sitzt. Der Taubblinde unterhält sich gern einmal von Freund zu Freund. Sein Gesprächspartner zeichnet ihm dann mit dem Finger die Buchstaben in Blockschrift in die Handfläche.

Wille und Liebe übrewienden Schicksal

Ein mühsames Verfahren. Als ob er das Leben, das ihm so viel genommen, überlisten möchte, so ist es bei Swoboda. Er tanzt gern. Er spielt Klavier und Akkordeon. Er hält kleine Vorträge vor den Kameraden. Nur ihre Lieder kann er nicht mitsingen. „Ich treffe nicht den richtigen Ton!" Im Sommer möchte Swoboda schwimmen und etwas Leichtathletik treiben. Er tippt beim Fußballtoto. Er läßt sich die Zeitung vorlesen. Er nannte uns auswendig alle Olympia-Wertungen.

Wie sagte Schiller: „Der Wille macht den Menschen groß und klein!" Das bitterste Schicksal ist überwinden durch die Größe des Willens und die helfende Liebe.