Kategorie VdK-Zeitung Verbandsleben Sozialpolitik

"Wählt... aber wählt Menschen!"

1949 wurde das erste Deutsche Bundesparlament gewählt. Ein wichtiges Ereignis auch für den neu gegründeten “Bund für Körperbehinderte und Hinterbliebene”, wie sich der Sozialverband VdK damals nannte. Folglich widmet sich auch der Aufmacher-Artikel des Verbandsorgans “Die Wacht des Bundes” diesem Thema unter dem Aufruf "Wählt…aber wählt Menschen!". Der vollständige Artikel zum Nachlesen: 

Auszug einer Zeitungstitelseite.
© VdK

Am 14. August 1949 wird das erste deutsche Bundesparlament gewählt. Das ist ein Vorgang von solcher
Wichtigkeit, daß wir dazu Stellung nehmen müssen. Wir tun das nicht aus parteipolitischen Gründen, denn unser Bund ist sowohl religiös wie parteipolitisch neutral. Wir nehmen es mit dieser Neutralität auch wirklich ernst. Trotzdem müssen wir uns über die Wahl Gedanken machen und wir machen uns diese Gedanken aus menschlichen Gründen.

Parteiprogramm oder Männer wählen?

Alles spitzt sich zu auf die Frage, ob man Parteiprogramme wählt oder Männer, die sich ihrer Verantwortung für das Ganze und für jeden einzelnen der ihnen anvertrauten Menschen bewußt sind. Von dieser Entscheidung hängt alles ab.

Wir sagen nichts gegen Parteiprogramme. Im Gegenteil! Wir anerkennen, daß sie notwendig sind. Wir haben aber die Überzeugung und es ist uns zu oft und zu eindringlich eingehämmert worden, daß Parteiprogramme sich zu ganz gefährlichen Diktatoren entwickelt haben, die freie Meinung und menschliche Persönlichkeit erstickt haben.

Im Nebenmenschen einen Bruder sehen

Wir aber hängen am Menschsein! Dieses Menschsein ist der einzige Fanatismus, dem wir Existenzberechtigung zubilligen.

Das hat seinen guten Grund! Wer wirklich und ganz simpel Mensch ist und nur Mensch sein will, der sieht im Nebenmenschen einen Bruder, dessen Freude die eigene Freude ist und dessen Not er wie die eigene Not empfindet. So aber müssen wir denken, wenn unser Aufbau überhaupt Erfolg haben soll. Noch so wortreiche Programme und selbst Taten aus irgendwelchen Motiven heraus bleiben unfruchtbar, wenn sie nicht vom Bewußtein, ein Mensch zu sein, getragen werden und lebendigen Menschen dienen sollen.

Ganz ursprüngliches, ganz tiefes und ganz selbstverständliches Mitfühlen mit dem lebendigen Menschen neben uns muß die Richtschnur unseres Tun wie Lassens sein. Das gilt nicht nur für das persönliche Leben des einzelnen, sondern muß ebenso für das staatspolitische Leben und seine Entscheidungen gelten. Wer aber zuerst in Parteidoktrinen denkt und sein Handeln von dort aus bestimmen läßt, der wird allzu leicht zum Gefangenen dieser Doktrinen und verliert darüber die Fähigkeit, ganz Mensch zu sein.

In der Praxis sieht es oft anders aus

Gewiß, keine der Parteidoktrinen - welche es auch immer sein mögen - ist etwa aus bösem Willen gegen das Volk entstanden. Ganz im Gegenteil. Jedes der Parteidoktrinen will sogar etwas Schönes und etwas Gutes. Doch in der Praxis sieht es allzu oft anders aus. Und dieser Zwiespalt zwischen Doktrin und Wirklichkeit ist es, der uns so mißtrauisch macht.

Man sage uns ja nicht, Parteidoktrine seien doch notwendig in einer Ordnung, in der das Volk repräsentieren und des Volkes Wille zur Geltung kommen soll. Wir wissen das sehr gut, aber wir wissen auch, daß es allzu oft anders aussieht.

Überschätzung von Parteidoktrinen

Unsere Kritik richtet sich darum gegen die Überschätzung von Parteidoktrinen und damit die übergroße Macht, die sie gegebenenfalls darstellen. Wir hängen mit allen Fasern an der Vorstellung, daß es auch im staatspolitischen Leben zuallerst um den lebendigen Menschen gehen muß. Überwuchert die Bedeutung dann von Parteidoktrinen, vertauschen wir schließlich nur die Herrschaft des einen gegen die Herrschaft der anderen Parteidoktrin.

Parteifanatismus ist immer ein Übel, ganz gleich unter welcher Farbe. Wir können es nicht oft genug sagen, daß es nur auf dieses eine ankommt: den Menschen dienend zu helfen! Dieser Mensch aber leidet Not, materiell und noch mehr seelisch, weil das Mitfühlen gar zu oft erstickt und von "sachlichen" Rücksichten überwuchert wird. Ob Gesetze, Anweisungen oder Verordnungen der Bürokratie oder ob Richtlinien der Parteiprogramme, das ist schließlich jedem gleich: In jedem Fall leidet der lebendige Mensch.

Der lebendige Mensch zählt

Ordnungen im Leben sind notwendig, weil anders das Leben im Chaos verströmen müßte. Aber alle sachlichen Bindungen und Rücksichten sind allzusehr ins Kraut geschossen und drohen das Leben zu ersticken. Deshalb müssen sie auf ihr berechtigtes Maß zurückbeschnitten werden. Das aber geht nur über lebendige Menschen. Deshalb appellieren wir eindringlich an alle unsere Mitglieder, Menschen zu wählen, nur Menschen.